Der Mitte gerecht werden – Leitartikel von Stefan Mappus, Vorsitzender der CDU-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg

Max Mustermann versteht die Welt nicht mehr. Der verheiratete Vater von zwei Kindern arbeitet als Elektroinstallateur. Im Monat verdient er 2.260 Euro brutto. Eigentlich hatte er sich über die Gehaltserhöhung von vier Prozent gefreut.


Doch der Blick auf den Lohnzettel lässt ihn staunen: Vier Prozent mehr Gehalt bewirken, dass seine Steuerbelastung plötzlich um 22 Prozent steigt. Unterm Strich bleibt ihm so nicht einmal ein Inflationsausgleich. Herr Mustermann zahlt drauf.

Das ist kein konstruiertes Beispiel. Herr Mustermann steht mitten in der Gesellschaft. Er ist der statistische Durchschnittsverdiener. Und er leidet unter Inflation und „kalter Progression“. Die Progressionswirkung des Steuertarifs ist gerade bei unteren und mittleren Einkommen am größten. Gleichzeitig bricht der Spitzensteuersatz „kalt“ in die gesellschaftliche Mitte ein. Konkret: Ein Meister bei Daimler erreicht in der Grenzbelastung ohne weiteres den Höchstsatz von 42 Prozent. Er gilt vor dem heutigen Steuerrecht als reich.

Die Menschen in der Mitte werden vom deutschen Steuer- und Abgabensystem benachteiligt. Sie sind die Verlierer in einer Debatte, die sich auf die sozialen Extreme kapriziert: Mindestlöhne und Millionengehälter, Prekariat und Spitzenverdiener, Hartz IV und „Reichensteuer“ heißen die Schlagwörter, die die Schlagzeilen bestimmen. Die Mitte spielt keine Rolle. Unser medial verstärktes Meinungsklima hat den Regelfall, den Durchschnitt, Max Mustermann und Otto Normalverbraucher vergessen.

Dabei gäbe es in der Mitte für die Politik am meisten zu tun. Ein weiteres Beispiel: Herr R. ist Rettungssanitäter. Er hat drei Kinder und verdient 1.700 Euro brutto. Wäre R. Hartz-IV-Empfänger, hätte er keinen Cent weniger. Allerdings hätte er dann den Komfort, dass der Staat seine Heizkosten jederzeit in voller Höhe übernimmt – unabhängig von Rohstoffpreisen und Verbrauch. Wäre er also mit Hartz IV zuverlässig gegen die Ausschläge der Energiemärkte abgesichert, verliert er als Erwerbstätiger mit jeder neuen Energiepreisrunde teures Geld vom knappen Einkommen. R. kommt für den Lebensunterhalt seiner Familie aus eigener Kraft auf. Er bezahlt für Heizöl, Essen und Schulhefte. Wie will man ihm erklären, wenn Politiker und Soziallobbyisten soziale Stromtarife, Schulessen und Schultüten auf Staatskosten für „bedürftige“ Transferempfänger fordern? R. könnte das nur als Zumutung eines Umverteilungssystems verstehen, das ihn als Leistungsträger klar benachteiligt. Die sozialpolitische Diskussion in Deutschland ist ohne ordnungspolitische Linie.

Die plakative Debatte über „Armut und Reichtum“ ist eine sozialpsychologische Übersprungshandlung. Sie gibt dem diffus gestörten Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen eine begreifliche Form. Tatsächlich liegt das deutsche Gerechtigkeitsproblem aber weder unten noch oben, sondern in der Mitte.

Die Politik muss sich auf das Leitbild des arbeitenden, selbst verantwortlichen Menschen mitten in der Gesellschaft zurückbesinnen. Gerade die CDU als Volkspartei der Mitte ist mehr denn je gefordert. Es ist richtig und überfällig, dass die CDU ihrem nächsten Bundesparteitag das Motto „Die Mitte stärken“ geben wird. Die Menschen in der Mitte erwarten klare Positionen und programmatische Perspektiven, die unverwechselbare CDU-Politik markieren.

Der Abbau der Arbeitslosigkeit in Deutschland um 1,5 Millionen seit der Bundestagswahl 2005 ist ein enormer politischer Erfolg. Doch noch immer sind mehr als 3 Millionen Menschen arbeitslos. Die Erwerbslosigkeit bleibt für unsere Gesellschaft das teuerste Problem. Deshalb muss die Arbeitsmarktreform weitergehen. Wir brauchen ein flexibleres Arbeitsrecht, ein schlankes, verständliches und handhabbares Arbeitsgesetzbuch, damit Unternehmen schneller Arbeitsplätze schaffen und Arbeitsuchende schneller Arbeit bekommen. Der Arbeitsmarkt in Deutschland gilt aber vielen immer noch zu wenig als Markt und zu sehr als Zielgebiet einer reglementierenden Sozial- und Gesellschaftspolitik.

Um einen funktionierenden, dynamischen und wettbewerbsfähigen Arbeitsmarkt zu schaffen, muss die Politik in Deutschland das Rad nicht neu erfinden. Das dänische Arbeitsrecht etwa verbindet wettbewerbsgerechte Flexibilität mit sozialer Sicherheit – und ist dabei äußerst erfolgreich: Mit ihrem „Flexicurity“-Konzept haben die Dänen die Arbeitslosigkeit in wenigen Jahren mehr als halbiert – bei im europäischen Vergleich erfreulich niedrigen Lohnnebenkosten. Der dänische Arbeitsmarkt heute ist hoch flexibel. Er gewährt größte Beschäftigungschancen, gerade weil er auf sozialpolitische Überregulierung verzichtet. Warum sollte Deutschland nicht von seinem nördlichen Nachbarn lernen können?

Aufgabe einer Politik für die Mitte ist es außerdem, die leistungsfeindliche Wirkung des Steuerrechts zurecht zu rücken. Eine grundlegende Reform des Einkommensteuersystems nach den Prinzipien „einfach, niedrig, gerecht“ ist nach wie vor Beschlusslage der CDU Deutschlands. Solange diese große Steuerreform politisch nicht durchsetzbar ist, muss zumindest die „kalte Progression“ gestoppt werden. Wir brauchen einen „Steuertarif auf Rollen“, der sich der Lohnentwicklung dynamisch anpasst und der dafür sorgt, dass Gehaltserhöhungen bei den Arbeitnehmern ankommen und nicht beim Finanzamt landen.

Leistung und Einsatzbereitschaft müssen sich lohnen. Rettungssanitäter R. muss mehr haben als er mit Hartz IV hätte. Damit sich Arbeit für die Beschäftigten im unteren Einkommensbereich bezahlt macht, müssen wir über Modelle einer negativen Einkommensteuer nachdenken. Wer voll arbeitet und trotzdem wenig verdient, erhält danach eine Einkommensteuergutschrift, die sein Nettogehalt aufbessert. So könnten gezielt Leistung und Arbeit prämiert und dem Lohnabstandsgebot marktkonform Geltung verschafft werden.

Das britische „Working Tax Credit“-Konzept, das diesem Prinzip folgt, hat dazu geführt, dass in Großbritannien geringer bezahlte Jobs attraktiv geworden sind und dass sich zumal viele Familien aus Armut, Lethargie und der Abhängigkeit von reinen Transferleistungen befreien konnten. In der Sozialen Marktwirtschaft können wir den Niedriglohnbereich nicht einfach als politisch unerwünscht wegdefinieren. Stattdessen gilt es, gering bezahlter Arbeit das sozialpolitische Stigma zu nehmen und sie als ökonomische Tatsache zunächst anzuerkennen. Das führt keineswegs zwangsläufig in eine Gesellschaft, in der Armut trotz Arbeit die neue soziale Wirklichkeit prägt. Im Gegenteil: Marktgerechte Arbeitsplätze fördern statt Arbeitslosigkeit finanzieren – das könnte auch in Deutschland ein ordnungspolitisch sauberes Rezept sein, um den Sorgen vieler Menschen in der Mitte vor Abstieg und Überforderung zu begegnen.

Vorschläge zur Entlastung der Mitte werden stets mit Blick auf die begrenzten Haushaltsspielräume beurteilt. Es mache keinen Sinn „Steuererleichterungen auf Pump zu verschenken“, lautet ein gängiges Argument. Zu den sozialstaatlichen Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zählt aber, dass wir immer mehr teure Strukturen errichtet haben, um auch noch die entlegensten gesellschaftlichen Bereiche sozialpolitisch zu durchdringen. Doch nicht jede öffentlich finanzierte Beratungsstelle oder Broschüre, nicht jedes Internetportal, Projekt oder Programm ist wirklich nötig. Indem der Staat seine Tätigkeit gelegentlich neu fokussiert, kann er auch Spielräume für die dringende Entlastung der Mitte zurück gewinnen.

Deutschland braucht endlich wieder eine Politik, die der Mitte gerecht wird, die das millionenfach Normale wieder zum normativen Bezugspunkt politischer Entscheidungen macht. Nur wenn das gelingt, kommt auch das Vertrauen in die politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung im Land zurück. Wenn die bayerische Landtagswahl gerade in diesem Punkt eines gezeigt hat, dann die Tatsache, dass die vielen Menschen, die man landläufig dem sogenannten bürgerlichen Lager zurechnet, entgegen anders lautenden Aussagen gerade nicht nach links rücken. Aber sie haben eben nicht mehr das Vertrauen in die großen Volksparteien, offensichtlich auch nicht das Vertrauen in CSU oder CDU, um die genannten Probleme in den Griff zu bekommen. Wenn wir diese Kernproblematik aufgreifen, ist die Christlich Demokratische Union nach meiner Überzeugung auch zukünftig in hohem Maße mehrheitsfähig. Dies erfordert aber im Gegensatz zu der jetzigen Vorgehensweise ein klares ordnungspolitisches Profil, das sich sichtbar um genau die Menschen kümmert, die diesen Staat am Ende des Tages tragen.

Erschienen am 20.10.2008 in DIE WELT

Quelle: CDU-Landtagsfraktion BW

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